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MAIL VOM SEPTEMBER 2001

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

den Artikel über Storytelling und Großgruppenarbeit (siehe unten)
halten wir für sehr lesenswert.


Storytelling am Arbeitsplatz.

Der Berührungspunkt von Seele und Gemeinschaft

Sabine Bredemeyer

Als ich 1999 an der "International Conference on Business & Consciousness" teilnahm, besuchte ich einen Workshop von Martin Rutte, einem bekannten amerikanischen Unternehmensberater und Co-Autor des Bestsellers "Chickensoup for the Soul at Work". Ich wußte nicht, was mich erwartete, und harrte gespannt der Dinge, die da kamen. Und ich sollte wirklich überrascht werden. Denn nachdem zunächst Martin Rutte vor die etwa 150 Menschen trat und ein paar Geschichten aus seinem Buch erzählte, fingen plötzlich die Teilnehmer an, eigene Geschichtenpreiszugeben. Geschichten aus ihrem Leben, ganz offen - wie unter guten Freunden, obwohl sie sich vorher noch nie begegnet waren. Es waren berührende Geschichten, fröhliche und solche, die zum Nachdenken anregten. Wenn ich selbst vor Rührung Tränen in die Augen bekam und mich etwas verschämt umschaute, sah ich viele, denen es offensichtlich genau so ging wie mir. Ich hatte noch nie - außer vielleicht in Community Building Workshops - erlebt, dass sich alle Teilnehmer gemeinsam in so kurzer Zeit von den Mitteilungen anderer so bewegen lassen. Wir hielten die Luft vor Spannung oder Erstaunen an, weinten und lachten zusammen und spürten, dass hier etwas ganz Besonderes passiert.

Anscheinend durchlebten wir Zuhörer alle gemeinsam die Lebenssituationen derjenigen, die aufstanden undberichteten. Und ich wagte sogar, eine Geschichte zu erzählen, die ich so offen bisher nur meiner besten Freundin anvertrauthatte. Beeindruckend war für mich auch, dass die 150 Teilnehmer dieses Workshops hinterher im Rahmen der Konferenz zu einer "besonderen" Gruppe wurden. Ich selbst kannte danach fast jeden aus diesem Workshop und hatte zu ihnen ein viel vertrauteres Verhältnis, als zu den 250 anderen. Und dieses für mich intensive Erlebnis eines Storytelling Workshops bewog mich, mich intensiver mit dieser Methodezu beschäftigen.

Der uralten Kunst des Geschichtenerzählens und ihrer geradezu lebensnotwendigen Bedeutung für uns Menschen wurde in den U.S.A. vor ungefähr 30 Jahren durch die Gründung der National Storytelling Association Rechnung getragen. Sie wurde das Dach für zahllose Vereine, Verbände und Gemeinschaften, die Storytelling seither auf allen Ebenen fördern und weiterentwickeln. Sie alle haben sich eine besondere Mission auf die Fahnen geschrieben haben: die Kunst des Geschichtenerzählens als darstellende Kunst, als Lernhilfe und als kulturellen Transformationsprozess weiterzuentwickeln. Sie unterscheiden sich durch ihre Zielgruppen und durch die Lebensbereiche, für die sie Storytelling perfektionieren.

In Unternehmen setzen amerikanische Berater und Trainer Storytelling mit Erfolg dazu ein, Eigenverantwortlichkeit und Kommunikationsfähigkeit von Führungskräften und Mitarbeitern zu erhöhen, die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen zu verbessern, Mitgefühl und Verständnis zu schaffen, Teamentwicklung zu fördern, Konflikte zu lösen und Motivation, Visionsfähigkeit und Inspiration in Unternehmen zu steigern.

Dass ein so simples Instrument wie Geschichtenerzählen so tiefgreifende Auswirkungen hervorbringen soll, klingt zunächst unwahrscheinlich. Sieht man sich jedoch die "Geschichte des Gchichtenerzählens" an, werden diese Ergebnisse nachvollziehbar.

Geschichten haben unsere Vorfahren schon erzählt, als wir uns vor vielen Millionen Jahren schutzsuchend um ein Feuer versammelten. Während die Scheite prasselten und die Glut ihre Wärme ausstrahlte, gaben wir Geschichten weiter, um Wissen zu vermitteln, Geschehnisse zu interpretieren und Erfahrungen auszutauschen. Wenn wir heute zu zweit oder in einer Gruppe zusammenkommen, erzählen wir uns ebenfalls Ereignisse in Form von Geschichten. Diese enthalten nicht einfach Daten und Fakten, sondern vermitteln auch unsere Gefühle, unseren Blickwinkel und unsere Beurteilung des Geschehenen oder machen deutlich, dass wir gerade genau danach suchen. Durch unsere Geschichten realisieren wir selbst und unsere Zuhörer, wie wir uns mit dem Erzählten fühlen und geben der gelebten Erfahrung Bedeutung. Manchmal erfinden wir neue Geschichten, in denen wir zu leben oder zu arbeiten wünschen. Und wenn wir aufmerksam uns oder anderen zuhören, dann entdecken wir in den Geschichten auch Muster oder Glaubenssätze, die in unserem Leben zum Thema geworden sind.

Wenn wir Geschichten zuhören, können wir uns in den Erfahrungen anderer wiederfinden. Wir entdecken unvermutete Gemeinsamkeiten oder können die Einzigartigkeit des Erzählers erkennen. Geschichten eröffnen die Möglichkeit, einander tiefgreifend zu verstehen, Vorurteile abzubauen und einander in unserer Vielfalt zu respektieren.

Wenn wir selbst Geschichten erzählen, machen wir die Erfahrung, verstanden zu werden. Mehr und mehr Menschen leiden heute darunter, dass sie sich unverstanden fühlen. Gibt man ihnen die Möglichkeit, ihre Geschichten zu erzählen, ist dies ein sehr heilsamer Prozeß.

Kulturen haben ihre "großen Erzählungen". Das sind ihre Interpretationen tatsächlicher oder eingebildeter historischer Ereignisse. Und mit diesen Geschichten geben sie sowohl ihre Weisheit wie ihre Vorurteile und Glaubenssysteme an nachfolgende Generationen weiter. Dass Eva aus einer Rippe Adams erschaffen wurde und dass sie den unschuldigen armen Kerl verführt hat, einen Apfel zu essen, beeinflußt bis heute unser Bild der Frau in der abendländischen Welt. Doch nicht nur in den ganz alten Kulturen ist das (Un)Wissen in Geschichten kodiert. Auch jüngere Kulturen (Nationen, Landsmannschaften) haben ihre eigenen typischen Geschichten. Die Preussen haben sich vielleicht Geschichten vom "Alten Fritz" erzählt, dem König, der Pflichterfüllung über alles stellte. Und das hat veranschaulicht, was es heißt, ein Preusse zu sein.

Dann gibt es in allen Teilen der Welt Mythen, Märchen und heilige Schriften, die universelle Wahrheiten transportieren. Joseph Campbell, einer der berühmtesten Mythenforscher hat festgestellt, dass sie oft eine gemeinsame Struktur haben, die er die "Reise des Helden" genannt hat. Solche Geschichten vermitteln tiefe Einsichten, Mut und Weisheit. Sie unterstützen uns darin, auch tiefgreifende persönliche Veränderungen zu meistern, und verhelfen uns zu einer sensibleren Wahrnehmung in unserer Interaktion mit anderen Menschen.

Solche Erkenntnisse über die Funktion und Wirkung von Geschichten veranlassten Martin Rutte dazu, das Geschichtenerzählen in die Unternehmen zu tragen. Er schreibt dazu aus seiner Erfahrung: "Als Berater ist es wichtig zu wissen, dass die Teilnehmer zunächst sehr sehr skeptisch sind. Sie haben vorher niemals eine solche Erfahrung gemacht. Es ist so sanft und einfach. Das kennen sie nicht. Wenn dann der Berater beginnt, Geschichten zu erzählen, kann man beobachten, wie sie immer entspannter werden. Sie bemerken plötzlich die Kraft in ihren eigenen Geschichten. Sie wissen, dass gute Geschichten Werte vermitteln, die sie gern in der Welt sehen würden. Und dann, wenn sie sich sicher genug fühlen, beginnt jemand "Wissen Sie, da fällt mir eine Geschichte ein, die vielleicht dazu passen könnte". Und dann beginnen sie, Ihnen ihre Geschichten zu erzählen. Und wenn das passiert, verändert sich die Energie im Raum. Die ganze Atmosphäre wandelt sich. Die Teilnehmer entspannen. Die Menschen teilen sich mit. Sie verbinden sich mit der Menschlichkeit der anderen im Raum. Kürzlich las ich dass eine Frau sagte:&Mac226; Stories sind die Verbindung zwischen der Seele und der Gemeinschaft‘."

Mit Großgruppen-Interventionen ist Storytelling in verschiedener Weise verbunden.
Harrison Owen, in dessen Sicht die Mythen für ein Unternehmen dasselbe sind, was die DNA für den Organismus ist, untersucht manchmal vor einer Open Space-Konferenz mittels Interviews, welches die Geschichten sind, die in dem Unternehmen erzählt werden. Die sich wiederholenden Geschichten trägt er vor Beginn des Open Space vor und fragt, ob das die Geschichten sind, die man sich tatsächlich erzählt. Und damit liegen möglicherweise sehr unbequeme Wahrheiten gleich auf dem Tisch. Die nachfolgende Konferenz hat dann das Ziel, die Geschichten zu erschaffen, die man in Zukunft erzählen will.

Birgitt Williams, eine kanadische Pionierin für Open Space, nutzt Storytelling häufig am Vorabend einer Open Space-Konferenz. Nachdem zunächst Geschichten in Paaren erzählt werden, sitzen alle in einem großen Kreis und erzählen ihre Geschichte dem großen Plenum. Dieser Prozess dauert oft bis in die Nacht hinein. Denn einmal begonnen, wollen die Beteiligten gar nicht mehr aufhören, ihre Geschichten zum besten zu geben.

In Appreciative Inquiry Summits wird sehr gezielt nach den besten, inspirierendsten Geschichten gesucht, um später eine Organisation zu entwickeln, die mehr dieser Erlebnisse möglich macht. Wenn innerhalb einer solchen Konferenz diese Geschichten erzählt werden, wird immer sehr aufmerksam zugehört. Und bei allen ändert sich ein Stück die Wahrnehmung von ihrer Organisation.

In der von Merrelyn Emery entwickelten Search Conference sitzen zu Beginn die bis zu 40 Teilnehmer in einem Kreis und erzählen sich Geschichten über Höhepunkte oder Wegmarken aus der ferneren und jüngeren Vergangenheit ihrer Organisation oder Gemeinde. Beginnend mit dem Ältesten im Raum wird so die Vergangenheit lebendig und entsteht die gemeinsame Historie neu.

In einer Real Time Strategic Change-Konferenz, die ich zusammen mit meiner Kollegin Carole Maleh leitete, tauchte eine Geschichte schon in der Planungsgruppe auf. Ein Mitglied derselben hatte unaufgefordert eine Art Märchen über die Entwicklung ihres Unternehmens geschrieben bis zu dem Moment, in dem nun die RTSC stattfinden sollte. Sie hatte die ganze Geschichte aus den Augen eines Elefanten erzählt, der zunächst ganz traurig über die Entwicklung des Unternehmens ist. Die Geschichte endet damit, dass der Elefant plötzlich gleichsam in einer Fata Morgana neue Möglichkeiten entdeckt. Das Ende blieb bewusst offen. Diese Geschichte wurde zu Beginn der RTSC Veranstaltung von der Mitarbeiterin vorgelesen. Nachdem diese Konferenz nach drei Tagen erfolgreich endete und die Teilnehmer viele neue Möglichkeiten und Wege gefunden hatten, ihre Zukunft erfolgreich zu gestalten, wurden die Teilnehmer im Abschlusskreis gebeten, die Geschichte weiterzuerzählen. Fast jeder der Teilnehmer ergänzte sie um positive Zukunftsbilder, die sie sich somit alle vorstellen und spüren konnten. Sie lachten und staunten gemeinsam über das, was der vormals traurige Elefant alles erlebte. Die Geschichte endete mit einem positiven offenen Ende, das weitere unerwartete Möglichkeiten erahnen ließ.

Martin Rutte arbeitet mit unterschiedlichen Methoden des Storytelling und er hat auch seine eigene Methodik entwickelt. Er erzählt zunächst Geschichten, eigene oder aus seinem Buch "Chickensoup for the Soul at Work", die thematisch zur Gruppe passen. Die Geschichten in seinem Buch stammen alle aus dem Kontext der Arbeit in Organisationen. Sie sind nach Themenbereichen geordnet wie "Kreativität am Arbeitsplatz", "Hindernisse überwinden", "Über Mut", "Mitgefühlt", etc. . Sie sind sehr bewegend und ein ermutigender Einstieg für die Gruppe. Was ein Storytelling Workshop bewirken kann, beschreibt Rutte so: "Die Menschen erkennen sich plötzlich als Menschen und nicht als Funktionsträger. Geschichten inspirieren zu neuen Möglichkeiten und Lösungen am Arbeitsplatz. Die Teilnehmer entwickeln tiefere zwischenmenschliche Beziehungen. Vertrauen und die Bereitschaft, gemeinsam Risiken einzugehen, werden geweckt und gesteigert. Wir entdecken unsere Gemeinsamkeiten und sind bereit, unsere Unterschiedlichkeit zu repektieren. In einer sicheren Umgebung können Einsichten und Lektionen leicht auftauchen. Unzufriedenheit und Negativität konnten durch gemeinsames Lachen und Weinen, durch berührende Mitteilungen aufgelöst werden. Die Seelen der Teilnehmer haben sich berührt - und das verbindet."

Wenn er eine Storytelling-Gruppe geleitet hat und die Teilnehmer diese neue wohltuende Erfahrung gemacht haben, ermutigt Martin Rutte seine Teilnehmer, solche Gruppen in regelmäßigen Abständen selbst weiterzuführen. Und in den meisten Fällen folgen die Teilnehmer diesem Vorschlag.

Geschichten erzählen ist ein uraltes Ritual der Menschheit und kann in jedem Lebensbereich bereichernd, lehrreich und heilsam sein. Bewußt eingesetzt in Unternehmen können wir wesentlich dazu beitragen, die Zufriedenheit und damit die Lebensqualität der Mitarbeiter zu steigern und Zukunftsszenarien zu kreieren, die von allen gewollt werden. Ob als Storytelling Gruppe oder eingepaßt in große Konferenz-designs - Storytelling ist eine Methode, für die die Zeit nun reif ist.

Aus diesem Grund veranstalte ich in der Nähe von Düsseldorf am 21. und 22. Oktober 2001 einen Storytelling -Workshop mit Martin Rutte. Es ist ein Train-the-Trainer Workshop für alle, die dieses einfache und doch so wirkungsvolle Instrument nutzen wollen. Der Workshop, zu dem sich auch Teilnehmer aus Neuseeland und Malaysia angemeldet haben, kostet DM 1.900,- zzgl. MwSt. Weitere Informationen und die Möglichkeit, sich anzumelden, finden Sie unter www.zukunftskonferenz.de und dann unter dem Link "Aktuelle Seminare und Workshops".