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MAIL VOM AUGUST 2002

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,


heute sind es drei Neuigkeiten aus dem Bereich der
Großgruppenarbeit, die wir an Sie weiterleiten wollen:


Erstens.
Susanne Weber von der Uni Marburg hat ein sehr interessantes
Buch herausgegeben: Vernetzungsprozesse gestalten. Erfahrungen aus der
Beraterpraxis mit Großgruppen und Organisationen, Gabler Verlag Wiesbaden
Es enthält viele Fallbeispiele aus allen möglichen Lebensbereichen
(Schule bis Wirtschaft) und mit allen hier bekannten Methoden der
Großgruppanarbeit.


Zweitens.
Ganz neu auf dem Markt ist eine Software, die es ermöglicht, Open
Space-Konferenzen online durchzuführen. Wir haben diese Software
zwar noch nicht ausprobiert, sie uns jedoch von der Urheberin
Gabriela Ender von der OpenSpace-Online GmbH beschreiben lassen.
Und was wir da gehört haben, hat uns sehr eingeleuchtet. Wir glauben,
dass virtuelle Open Space Konferenzen eine große Zukunft haben,
inbesondere dort, wo die Entfernungen zwischen den Teilnehmern groß
sind oder wo sich die Teilnehmer aus anderen Gründen nicht leicht
in einem Raum zusammenbringen lassen. Wir sehen solche Online-Konferenzen
nicht als Konkurrenz zum "physisch präsenten" Gegenstück. Online-Konferenzen
sind kürzer (bis acht Stunden) und dürften nach Aussage von Gabriela Ender
nur bis zu einer Teilnehmerzahl von 75 praktikabel sein. Sie werden ganz
sicher dazu beitragen, dass auch mehr "reale" Open Space-Konferenzen
stattfinden werden.

Besonders gut fanden wir, dass die Software von Gabriela Ender sehr
menschlich gestaltet wurde. Eine kleine Figur, "Comoso" genannt, ist der
virtuelle Moderator, der wie auch sonst bei Open Space sehr im Hintergrund
bleibt. Und großartig finden wir, dass die Software bzw. deren Nutzung
nicht viel kosten wird. Das Preisschema von OpenSpace-Online wird dazu
beitragen, dass auch die Non-Profit-Welt dieses wertvolle Werkzeug
nutzen können wird.

Wer sich nun intensiver informieren möchte, besuche:
www.OpenSpace-Online.com


Drittens.
In New York hat eine Konferenz mit 5000 Bürgern stattgefunden.
Thema war die Neugestaltung des zerstörten Ground Zero. Wer den
unten stehenden Bericht, der am 22.7. in der Südddeutschen Zeitung
erschienen ist, liest, wird feststellen, dass es dabei um Großgruppen-
arbeit, wie wir sie propagieren, handelt. Haben Sie Interesse, den
Originalartikel aus der Süddeutschen vor sich zu sehen? Auf
Wunsch senden wir Ihnen diesen gerne als JPEG-Datei zu.


Wir von all•in•one wünschen einen wunderbaren Spätsommer und Herbst.

Herzliche Grüße aus Oberursel, Düsseldorf, Heidelberg und Frankfurt

Matthias zur Bonsen Isis Herzog
Sabine Bredemeyer Peter Bauer




Aus der Süddeutschen Zeitung, 22. Juli 2002

Die Freiheit, nein zu sagen - Democracy at work
New York steht auf - und zerreißt die neuen Pläne zum
Wiederaufbau von Ground Zero in der Luft


Die "größte Stadtversammlung der amerikanischen Geschichte" begann in New York am Samstagmorgen mit den üblichen Ritualen: Singen der Hymne, Gedenken an die "Helden", wehende Fahnen auf Videoscreens. Doch als sie acht Stunden später endete, war nicht viel von der Sentimentalität geblieben. Das Volk hatte gesprochen. Und die ersten Pläne für den Wiederaufbau des World- Trade-Centers-Areals waren Makulatur.

Vergangenen Dienstag hatte die Lower Manhattan Development Corporation (LMDC), die im Auftrag von Stadt und Staat New York das epochale Projekt koordiniert, sechs provisorische Entwürfe vorgestellt. Seitdem hatten die meisten Architekten, Kommentatoren und Politiker die Pläne in der Luft zerrissen: "Diese Downtown wollen wir nicht", betitelte die New York Times ihren Leitartikel - und fast sämtliche Leserbriefschreiber stimmten ihr zu. Nun kamen die Bürger bei einem gigantischen Hearing selbst zu Wort. Nicht weniger als 5000 von ihnen waren bereit, den Tag nicht am Strand, sondern in einer düsteren Halle des Javits-Centers zu verbringen, wo sie um ihre Meinung zu den Wiederaufbauplänen gebeten wurden.

Wer sich anfangs noch über den unglaublichen Aufwand amüsierte, den der Veranstalter Civic Alliance, ein Zusammenschluss von Bürgerinitiativen aus Downtown Manhattan, getrieben hatte, der war bald beeindruckt von der Ernsthaftigkeit und Effizienz des Abstimmungsprozesses. Mit den fruchtlosen deutschen Bürgerversammlungen zu Tempo-30-Zonen und Ausschanklizenzen hatte dieses Ereignis wenig zu tun. Statt vor ein Expertengremium setzte die gemeinnützige Organisation America Speaks die Teilnehmer an 500 Einzeltische, wo sie unter der Leitung neutraler Moderatoren mit wildfremden anderen New Yorkern eine lange Liste von Themenkomplexen diskutierten: Welcher Entwurf eignet sich am besten für die Gedenkstätte, was fehlt in den Entwürfen, wo liegen die Prioritäten beim Wiederaufbau? Die Teilnehmer gaben ihr Votum wie in Fernsehshows per drahtlosem Stimmgerät ab oder äußerten sich mittels kurzer Texte, die von Laptops an jedem einzelnen Tisch abgesendet und anschließend sofort ausgewertet und zusammengefasst wurden. So diskutierten an einem Tisch zwei Wallstreet-Broker, eine Studentin, ein schwarzer Ex-Häftling und ein chinesisches Gemüsehändlerehepaar, für das eigens zwei Dolmetscher abgestellt worden waren. Jeder im Saal trug ein Namensschild, vom Chairman der LMDC über die Architekturkritiker aus der ganzen Welt bis hin zum mexikanischen Spülsklaven ohne Papiere. Und alle sprachen mit allen, während sie in den Pausen des Abstimmungs- und Diskutiermarathons durch die riesige Halle wanderten. Nirgends waren die Spinner und Selbstdarsteller zu entdecken, die sonst derlei Veranstaltungen erledigen, auch die Angehörigen der Toten - sieben Prozent der Teilnehmer - behielten die Fassung. In diesen acht Stunden wirkte die amerikanische Selbstbeweihräucherung, die Beschwörung von "Democracy at work" einmal nicht heuchlerisch.

Natürlich: Entscheidungsgewalt besaß diese Versammlung nicht. Sie diente den Verantwortlichen lediglich als Barometer für die öffentliche Meinung, und, so hatte man anfangs befürchtet, als demokratisches Feigenblatt für eine technokratische Planung hinter verschlossenen Türen. Doch darum muss man sich vorläufig nicht mehr sorgen. Die Kritik an den sechs Entwürfen war so vernichtend, dass die Zuständigen schon am Samstagabend andeuteten, sie wollten ihr Konzept völlig neu überdenken. Kritisiert wurden nicht nur die erbärmlichen Entwürfe selbst, die das New Yorker Büro Beyer Blinder Belle in Rekordzeit zusammengeschustert hatte: "Es sieht aus wie Albany", das banale Hauptstädtchen des Bundesstaats New York, fand eine Mehrheit und forderte einen internationalen Wettbewerb, "ehrgeizigere" und "kühnere" Ideen, höhere und schlankere Gebäude für eine Skyline, die ebenso spektakulär werden soll wie die alte. Kritisiert wurde vor allem das städtebauliche Programm, das die Port Authority als Grundbesitzerin dem Entwurfsbüro vorgeschrieben hatte. Um Schadenersatzforderungen von dem Besitzer der Gebäudenutzungsrechte, dem Immobilienmogul Larry Silverstein, zu vermeiden, bestand diese nämlich bisher darauf, außer der Gedenkstätte und einem Museum exakt dieselbe Menge an Bürofläche wiederaufzubauen, die am 11. September verloren ging: unglaubliche 1,2 Million Quadratmeter. Für Kultur, Schulen, Wohnungen blieb da kein Platz mehr. Lediglich der Vorschlag, den Verkehr der West Street, der große Nord-Süd- Trasse am Hudson-Ufer zugunsten einer grünen Promenade in den Untergrund zu verlegen, fand die Gnade des Publikums. Dass bis Dezember schon ein Masterplan vorliegen könne, daran glaubt nun niemand mehr.

Bis vorgestern schien die Stadt gefangen in perpetuierter Trauer, Verunsicherung und Selbstbezogenheit. Erst jetzt scheint ihr Ehrgeiz geweckt, der Welt etwas Neues zu bieten, erst jetzt wird sie sich der Chance bewusst - und der Freiheit, die seit dem 9. September zum rhetorischen Winkelement verkommen war. Die Diskussion ist eröffnet.

JÖRG HÄNTZSCHEL