Liebe
Kolleginnen und Kollegen,
heute sind es drei Neuigkeiten aus dem Bereich der
Großgruppenarbeit, die wir an Sie weiterleiten wollen:
Erstens.
Susanne Weber von der Uni Marburg hat ein sehr interessantes
Buch herausgegeben: Vernetzungsprozesse gestalten. Erfahrungen aus der
Beraterpraxis mit Großgruppen und Organisationen, Gabler Verlag
Wiesbaden
Es enthält viele Fallbeispiele aus allen möglichen Lebensbereichen
(Schule bis Wirtschaft) und mit allen hier bekannten Methoden der
Großgruppanarbeit.
Zweitens.
Ganz neu auf dem Markt ist eine Software, die es ermöglicht, Open
Space-Konferenzen online durchzuführen. Wir haben diese Software
zwar noch nicht ausprobiert, sie uns jedoch von der Urheberin
Gabriela Ender von der OpenSpace-Online GmbH beschreiben lassen.
Und was wir da gehört haben, hat uns sehr eingeleuchtet. Wir glauben,
dass virtuelle Open Space Konferenzen eine große Zukunft haben,
inbesondere dort, wo die Entfernungen zwischen den Teilnehmern groß
sind oder wo sich die Teilnehmer aus anderen Gründen nicht leicht
in einem Raum zusammenbringen lassen. Wir sehen solche Online-Konferenzen
nicht als Konkurrenz zum "physisch präsenten" Gegenstück.
Online-Konferenzen
sind kürzer (bis acht Stunden) und dürften nach Aussage von
Gabriela Ender
nur bis zu einer Teilnehmerzahl von 75 praktikabel sein. Sie werden
ganz
sicher dazu beitragen, dass auch mehr "reale" Open Space-Konferenzen
stattfinden werden.
Besonders gut fanden wir, dass die Software von Gabriela Ender sehr
menschlich gestaltet wurde. Eine kleine Figur, "Comoso" genannt,
ist der
virtuelle Moderator, der wie auch sonst bei Open Space sehr im Hintergrund
bleibt. Und großartig finden wir, dass die Software bzw. deren
Nutzung
nicht viel kosten wird. Das Preisschema von OpenSpace-Online wird dazu
beitragen, dass auch die Non-Profit-Welt dieses wertvolle Werkzeug
nutzen können wird.
Wer sich nun intensiver informieren möchte, besuche:
www.OpenSpace-Online.com
Drittens.
In New York hat eine Konferenz mit 5000 Bürgern stattgefunden.
Thema war die Neugestaltung des zerstörten Ground Zero. Wer den
unten stehenden Bericht, der am 22.7. in der Südddeutschen Zeitung
erschienen ist, liest, wird feststellen, dass es dabei um Großgruppen-
arbeit, wie wir sie propagieren, handelt. Haben Sie Interesse, den
Originalartikel aus der Süddeutschen vor sich zu sehen? Auf
Wunsch senden wir Ihnen diesen gerne als JPEG-Datei zu.
Wir von allinone wünschen einen wunderbaren Spätsommer
und Herbst.
Herzliche Grüße aus Oberursel, Düsseldorf, Heidelberg
und Frankfurt
Matthias zur Bonsen Isis Herzog
Sabine Bredemeyer Peter Bauer
Aus der Süddeutschen Zeitung, 22. Juli 2002
Die Freiheit, nein zu sagen - Democracy at work
New York steht auf - und zerreißt die neuen Pläne zum
Wiederaufbau von Ground Zero in der Luft
Die "größte Stadtversammlung der amerikanischen Geschichte"
begann in New York am Samstagmorgen mit den üblichen Ritualen:
Singen der Hymne, Gedenken an die "Helden", wehende Fahnen
auf Videoscreens. Doch als sie acht Stunden später endete, war
nicht viel von der Sentimentalität geblieben. Das Volk hatte gesprochen.
Und die ersten Pläne für den Wiederaufbau des World- Trade-Centers-Areals
waren Makulatur.
Vergangenen Dienstag hatte die Lower Manhattan Development Corporation
(LMDC), die im Auftrag von Stadt und Staat New York das epochale Projekt
koordiniert, sechs provisorische Entwürfe vorgestellt. Seitdem
hatten die meisten Architekten, Kommentatoren und Politiker die Pläne
in der Luft zerrissen: "Diese Downtown wollen wir nicht",
betitelte die New York Times ihren Leitartikel - und fast sämtliche
Leserbriefschreiber stimmten ihr zu. Nun kamen die Bürger bei einem
gigantischen Hearing selbst zu Wort. Nicht weniger als 5000 von ihnen
waren bereit, den Tag nicht am Strand, sondern in einer düsteren
Halle des Javits-Centers zu verbringen, wo sie um ihre Meinung zu den
Wiederaufbauplänen gebeten wurden.
Wer sich anfangs noch über den unglaublichen Aufwand amüsierte,
den der Veranstalter Civic Alliance, ein Zusammenschluss von Bürgerinitiativen
aus Downtown Manhattan, getrieben hatte, der war bald beeindruckt von
der Ernsthaftigkeit und Effizienz des Abstimmungsprozesses. Mit den
fruchtlosen deutschen Bürgerversammlungen zu Tempo-30-Zonen und
Ausschanklizenzen hatte dieses Ereignis wenig zu tun. Statt vor ein
Expertengremium setzte die gemeinnützige Organisation America Speaks
die Teilnehmer an 500 Einzeltische, wo sie unter der Leitung neutraler
Moderatoren mit wildfremden anderen New Yorkern eine lange Liste von
Themenkomplexen diskutierten: Welcher Entwurf eignet sich am besten
für die Gedenkstätte, was fehlt in den Entwürfen, wo
liegen die Prioritäten beim Wiederaufbau? Die Teilnehmer gaben
ihr Votum wie in Fernsehshows per drahtlosem Stimmgerät ab oder
äußerten sich mittels kurzer Texte, die von Laptops an jedem
einzelnen Tisch abgesendet und anschließend sofort ausgewertet
und zusammengefasst wurden. So diskutierten an einem Tisch zwei Wallstreet-Broker,
eine Studentin, ein schwarzer Ex-Häftling und ein chinesisches
Gemüsehändlerehepaar, für das eigens zwei Dolmetscher
abgestellt worden waren. Jeder im Saal trug ein Namensschild, vom Chairman
der LMDC über die Architekturkritiker aus der ganzen Welt bis hin
zum mexikanischen Spülsklaven ohne Papiere. Und alle sprachen mit
allen, während sie in den Pausen des Abstimmungs- und Diskutiermarathons
durch die riesige Halle wanderten. Nirgends waren die Spinner und Selbstdarsteller
zu entdecken, die sonst derlei Veranstaltungen erledigen, auch die Angehörigen
der Toten - sieben Prozent der Teilnehmer - behielten die Fassung. In
diesen acht Stunden wirkte die amerikanische Selbstbeweihräucherung,
die Beschwörung von "Democracy at work" einmal nicht
heuchlerisch.
Natürlich: Entscheidungsgewalt besaß diese Versammlung nicht.
Sie diente den Verantwortlichen lediglich als Barometer für die
öffentliche Meinung, und, so hatte man anfangs befürchtet,
als demokratisches Feigenblatt für eine technokratische Planung
hinter verschlossenen Türen. Doch darum muss man sich vorläufig
nicht mehr sorgen. Die Kritik an den sechs Entwürfen war so vernichtend,
dass die Zuständigen schon am Samstagabend andeuteten, sie wollten
ihr Konzept völlig neu überdenken. Kritisiert wurden nicht
nur die erbärmlichen Entwürfe selbst, die das New Yorker Büro
Beyer Blinder Belle in Rekordzeit zusammengeschustert hatte: "Es
sieht aus wie Albany", das banale Hauptstädtchen des Bundesstaats
New York, fand eine Mehrheit und forderte einen internationalen Wettbewerb,
"ehrgeizigere" und "kühnere" Ideen, höhere
und schlankere Gebäude für eine Skyline, die ebenso spektakulär
werden soll wie die alte. Kritisiert wurde vor allem das städtebauliche
Programm, das die Port Authority als Grundbesitzerin dem Entwurfsbüro
vorgeschrieben hatte. Um Schadenersatzforderungen von dem Besitzer der
Gebäudenutzungsrechte, dem Immobilienmogul Larry Silverstein, zu
vermeiden, bestand diese nämlich bisher darauf, außer der
Gedenkstätte und einem Museum exakt dieselbe Menge an Bürofläche
wiederaufzubauen, die am 11. September verloren ging: unglaubliche 1,2
Million Quadratmeter. Für Kultur, Schulen, Wohnungen blieb da kein
Platz mehr. Lediglich der Vorschlag, den Verkehr der West Street, der
große Nord-Süd- Trasse am Hudson-Ufer zugunsten einer grünen
Promenade in den Untergrund zu verlegen, fand die Gnade des Publikums.
Dass bis Dezember schon ein Masterplan vorliegen könne, daran glaubt
nun niemand mehr.
Bis vorgestern schien die Stadt gefangen in perpetuierter Trauer, Verunsicherung
und Selbstbezogenheit. Erst jetzt scheint ihr Ehrgeiz geweckt, der Welt
etwas Neues zu bieten, erst jetzt wird sie sich der Chance bewusst -
und der Freiheit, die seit dem 9. September zum rhetorischen Winkelement
verkommen war. Die Diskussion ist eröffnet.
JÖRG
HÄNTZSCHEL