Matthias
zur Bonsen
Appreciative
Inquiry ist eine Methode der Veränderung, die radikal das Positive betont.
Es wird untersucht, was bereits an Gutem da ist, was es ermöglichte
und was daraus für die Zukunft gelernt werden kann. Innovativstes Element
dieser Methode ist das AI-Interview, mit dem sie immer beginnt.
Kaum
ein Workshop oder eine Konferenz startet gleich von Beginn an mit einer
solchen Energie, wie sie sich bei Anwendung der Methode Appreciative
Inquiry (AI) auf Deutsch: wertschätzende Erkundung - beobachten läßt.
Da sitzen Paare in ein angeregtes Gespräch vertieft zusammen, manchmal
für eine Stunde, manchmal sogar für zwei. Wer genau hinschaut, dem entgeht
nicht, dass dieses Gespräch den Beteiligten viel Freude macht. Die einen
erzählen lebhaft, die anderen hören interessiert zu und machen sich
Notizen. Es wird viel gelächelt, die Gesichtszüge sind offen, die Augen
glänzen. Für Frager und Befragte scheint die Zeit wie im Flug zu vergehen.
Sie wollen oft gar nicht mehr aufhören. Und horcht man später nach,
wie Sie das Interview empfanden, dann hört man Kommentare wie:
- Wir
haben viele Gemeinsamkeiten entdeckt
- Ich
habe wirklich gute Geschichten gehört.
- Viel
Verschüttetes ist wieder freigelegt worden.
- Ein
Gefühl von Verbundenheit ist entstanden.
- Mir
wurde etwas über mich selber klar.
- Ich
habe neue gute Seiten in mir und in meinem Partner gefunden.
- Ich
sehe jetzt neue Möglichkeiten.
- Ich
habe viel mehr erzählt, als ich vorhatte.
Was
ist es, das diese positive Energie erzeugt? Es ist das sogenannte Appreciative
Inquiry-Interview, das am Beginn jedes AI-Veränderungsprozesses steht.
AI ist eine radikale Philosophie und Methodik der Veränderung, die seit
Mitte der Achtziger Jahre in den USA von David Cooperrider entwickelt
wurde und die zur Zeit die ganze Welt erobert. Radikal ist diese Methode,
weil sie uneingeschränkt das positive Potenzial in Menschen und in Organisationen
betont. Wir wissen, dass wir zu größeren Taten fähig sind, wenn wir
ein positives Bild von uns selbst haben, uns mehr zutrauen, mehr an
uns glauben. Und auch Teams oder Organisationen brauchennicht
nur eine leuchtende Vision von der Zukunft, sondern auch ein sie stärkendes
Bild von ihrer Gegenwart. Denn wer seine heutigen Fähigkeiten nur grau
in grau sieht, wird nie an eine helle Zukunft glauben können.
Konventionelle
Methoden der Veränderung sind oft defizit-orientiert. Da werden zuerst
die Mängel, die die Organisation hat, ausgiebig untersucht. Und das
hat leider zur Folge, dass die Beteiligten sich eher geschwächt als
gestärkt fühlen. Wer mit der Analyse der Mängel beginnt, untergräbt
allzu leicht das eigene Selbstvertrauen. AI dagegen will vor allem das
Potenzial bewußt machen, das in Menschen und Organisationen steckt.
Ein Potenzial, das im Grunde unermesslich groß ist. Und das wichtigste
Werkzeug dazu ist das AI-Interview. Mit ihm werden die “magic moments³
der Organisation untersucht. Kürzere oder längere Momente und Orte,
wo etwas in der Organisation gut oder sogar phantastisch war und aus
denen sich etwas für die Zukunft lernen läßt. Denn wie schlecht ein
Team oder eine Organisation auch immer sein mag, immer gibt es darin
etwas, das funktioniert. Immer gibt es darin “Juwelen³, die darauf hinweisen,
was eigentlich aus der Organisation werden könnte.
In
diesem Interview sitzen sich zwei Partner gegenüber und der eine fragt
beispielsweise den anderen: “Während Ihrer Zeit bei uns haben Sie wahrscheinlich
Höhen und Tiefen erlebt. Ich möchte Sie für einen Moment bitten, sich
an eine Zeit zu erinnern, die für Sie ein echtes Highlight war, eine
Zeit, in der Sie besonders begeistert waren, sich besonders wohl und
lebendig fühlten und in der Sie sich einbringen und etwas bewirken konnten.
Ich möchte, dass Sie sich an eine herausragend positive Erfahrung erinnern.
Gleichgültig, ob aus der jüngeren oder ferneren Vergangenheit. Erzählen
Sie mir bitte diese Geschichte.³
Und
der andere erzählt seine Geschichte. “Ich war erst zwei Jahre im Unternehmen,
da bekam ich das ABC-Projekt übertragen. Der Geschäftsleitung war dieses
Projekt sehr wichtig, die Zeit drängte und das Budget war knapp. Doch
ich erhielt alle Freiheiten, die ich brauchte, Viel mehr, als ich jemals
zuvor in meiner Linienaufgabe hatte. Und wenn es notwendig war, konnte
ich jederzeit mit unserem Geschäftsführer sprechen. Am Anfang erschien
mir die Aufgabe fast überwältigend, doch langsam bekam ich Übersicht
.....Wir haben dann alle zusammen.....Und kurz vor dem Ende sah es noch
einmal so aus, als ob wir scheitern würden. Doch dann......Als ich später
in meine Linienaufgabe zurückging, habe ich die Gestaltungsmöglichkeiten,
die ich in diesem Projekt hatte, sehr vermißt.³
Interviews
verändern die Wahrnehmung zum Positiven
Ein
AI- Interview dauert, wenn sich beide Partner befragen, bis zu zwei
Stunden. Jede Frage dient dazu, positive Wahrnehmungen von sich selbst
und von der Organisation bewusst werden zu lassen. Jede Frage soll dazu
beitragen, dass bei der befragten Person ein helleres Bild von der Vergangenheit
und Gegenwart entsteht. Positive Gefühle sollen ausgelöst und verstärkt
werden. Und jede Frage soll die Vision davon bereichern, was aus diesem
Team oder dieser Organisation einmal werden könnte. Daher wird in dem
Interview nach erlebten oder beobachteten Höhepunkten, Spitzenleistungen
und vorbildlichen Handlungen sowie nach deren Bedingungen gefragt. Die
Fragen regen dazu an, Wünsche, Ziele und Träume für die Zukunft zu äußern
und sich ein Bild für die Zukunft der Organisation zu machen. Möglichkeiten
für die Entwicklung werden aufgespürt und wertvolle Aspekte aus der
Vergangenheit für die Zukunft nutzbar gemacht.
Mit
Neugier fragen
Nicht
wie ein analytischer Forscher, sondern mit der unbefangenen Neugier,
Anteilnahme und dem Staunen eines Kindes stellen die Interviewer ihre
Fragen. Die Aussagen des anderen werden wie ein Geschenk betrachtet.
Sie werden ernst genommen. Der andere wird so behandelt, als habe er
ein Geheimnis zu enthüllen. Diese Hinweise sollen das »methodische«
Herangehen an die Interviews erleichtern. Im Idealfall läuft es ab wie
das Gespräch eines zehnjährigen Jungen mit seinem Großvater, der in
der nächsten Woche sterben wird. Der Junge will nochmals die besten
Geschichten aus dem Leben des Großvaters hören. Dieser wiederum will
mitteilen, was er daraus gelernt hat.
Der
Interviewer ist also beteiligter Zuhörer. Er soll vor allem dem Befragten
viel Raum geben, umfangreich erzählen zu können. Er darf aber auch mitteilen,
was das Erzählte in ihm auslöst. Um mehr über die Geschichten und das,
was daraus zu lernen ist, zu erfahren, kann der Interviewer ergänzende
Fragen stellen: Warum empfinden Sie das so? Was war Ihr eigener Beitrag?
Wer hat sonst beigetragen? Warum war dieses Erlebnis für Sie so wichtig?
Wie hat es Sie selbst verändert? Welche Rahmenbedingungen haben zu diesem
Gipfelerlebnis geführt? So bleibt es nicht bei dürren Antworten.
Vielmehr entstehen lebendige Bilder und anschauliche Geschichten.
Belebend,
frisch, wertschätzend
Die
Interviews sind in der Regel ein inspirierendes Erlebnis für beide Partner.
Vergessene oder verschüttete Erlebnisse, geknüpft an bestärkende und
lebendige Gefühle werden wieder frei gelegt. Das Interview wirkt belebend.
Die beteiligten Menschen kommen einander nicht nur näher, sie berühren
sich zuweilen gegenseitig sehr tief. Es ist nicht übertrieben zu behaupten,
dass zwei Menschen, die zwei Stunden in einem beidseitigen AI-Interview
verbracht haben, für immer einen Teil des jeweils anderen in sich aufgenommen
haben. Doch nicht nur der Fragende, auch der Befragte wird durch seine
Antworten berührt. Die befragte Person erlebt ihre positiven Erlebnisse
ein zweites Mal. Der Zauber des Moments wird wieder lebendig und wirkt.
Wo vorher das Negative stark wahrgenommen wurde, wird jetzt wieder sichtbar,
dass es viel Positives gibt. Negative Annahmen, wie »die Zusammenarbeit
mit meinen Kollegen kann nie gut werden« werden revidiert, wenn beispielsweise
eine Geschichte darüber erzählt wird, wie diese Zusammenarbeit einmal
sehr gut funktioniert hat. So entstehen Lust, Hoffnung und Mut in Bezug
auf die Zukunft. Die Kraft der Interviews entsteht vor allem durch den
bejahenden und bestätigenden Charakter der Fragen. Es wird nach den
Momenten der Freude und nach den brillanten Facetten gefragt. Erstes
sind Erlebnisse, in deren Mittelpunkt man selbst stand, zweites Beobachtungen
von Ereignissen, wo etwas gut oder außergewöhnlich gut lief.
Das
AI-Interview hat Fragen, die beinahe standardmäßig immer oder fast immer
gefragt werden (ein leicht gekürzte Fassung im Kasten auf Seite ...),
und Fragen, die für die spezielle Situation entwickelt werden. Vielleicht
ist es im jeweiligen Fall besonders wichtig, die Innovationsfähigkeit,
die Kundenorientierung, die Fähigkeit zu aktivem Verkaufen oder etwas
anderes zu stärken. Dann wird diese Eigenschaft, die man künftig verstärken
will, zum “Kernthema³ erklärt. Und zu dem Kernthema werden dann weitere
Fragen gestellt.
Wann
werden die Interviews geführt? Hier gibt es mehrere Möglichkeiten. Sie
können zu Beginn eines Workshops oder einer großen Konferenz (eines
sogenannten AI Summits) stattfinden. Sie können bereits vor dem Workshop
oder der Konferenz mit größeren Zahlen von Mitarbeitern durchgeführt
werden. Oder eine Gruppe entwickelt an einem ersten Tag die Fragen,
führt dann Interviews mit Kollegen durch, und kommt in einem dritten
Schritt wieder zusammen, um die Interviews auszuwerten.
Jeder
kann wertschätzende Fragen stellen
Muss
man die Interviewer trainieren, damit sie die Befähigung zu einem AI-Interview
haben? Nein, ist die schlichte Anwort. Die Erfahrung hat gezeigt, dass
die Interviewer kein Training benötigen, um ihren Partnern wertschätzende
Fragen zu stellen. Sie brauchen es so wenig, wie der zehnjährige Junge,
der das vielleicht letzte lange Gespräch mit seinem Großvater führt.
Unbefangene Neugier, echtes Interesse, Anteilnahme und Staunen liegen
in unserem Wesen. Sie sind Haltungen, die wir leicht einnehmen können,
wenn wir es wollen.
Wie
werden die Interviews ausgewertet? Es wird untersucht, was die “magic
moments³ der Organisation eigentlich möglich machte. Denn kennt man
diese Faktoren, dann kann man sich daran machen, sie zu verstärken,
so dass mehr magische Momente möglich werden. Und es ist wichtig, die
besten Geschichten und Zitate, die zwischen den beiden Interviewpartnern
ausgetauscht wurden, der ganzen Gruppe oder dem ganzen Kreis der Beteiligten
sichtbar zu machen. Meistens werden einige der besten Geschichten nach
der Paararbeit in Kleingruppen und/oder im Plenum erzählt. Oft wird
in Kleingruppen nach den verbindenden Mustern und Werten gesucht, die
sich aus den Antworten ergeben, und werden selbige dann dem Plenum zur
Kenntnis gebracht. Dort wo AI großflächig eingesetzt und hunderte von
Interviews durchgeführt werden, werden die besten Geschichten und Zitate
in einem Bericht zusammengefasst. Er enthält viele Beispiele für das,
was bereits punktuell gut funktioniert und nur weiter verbreitet oder
konsequenter umgesetzt werden müßte.
Als
Ergebnis der Auswertung wird deutlich, dass das Team oder die Organisation
viel mehr Potenzial hat, als es oder sie eigentlich dachte. Es sind
bei allen Beteiligten viele neue Bilder dazu entstanden, wie ihr Team
oder ihre Organisation einmal werden könnte. Ihre Vision von der gemeinsamen
Zukunft wurde bereichert. Zugleich haben sie oft sehr konkrete Anregungen
bekommen, die sie persönlich umsetzen können. AI-Interviews sind also
ein wirksames Werkzeug für Lernen Lernen aus positiven Beispielen.
Interviewleitfaden
Fragenblock
1: Wahrnehmung
der Organisation
- Um
zu beginnen, erzählen Sie mir bitte von Ihrer Anfangszeit in unserer
Organisation. Wann kamen Sie zu uns? Was hat Sie zu uns hin gezogen?
Was waren Ihre ersten Eindrücke und was hat Sie am Anfang begeistert,
als Sie zu uns kamen?
- Bitte
erinnern Sie sich an einen Zeitraum, der für Sie ein echter Höhepunkt
war. Eine Zeit, in der Sie besonders begeistert waren, sich wohl und
lebendig fühlten, in der Sie sich vielleicht besonders gut einbringen
und etwas in unserer Organisation bewirken konnten. Was ist da geschehen?
Wer war dabei? Was ermöglichte dieses Erlebnis? Was können wir daraus
lernen?
- Was
schätzen Sie besonders an sich, an Ihrer Arbeit und an unserer Organisation?
Fragenblock
2: Kernthemen (Diese Fragen werden für den jeweiligen Fall entwickelt.)
Fragenblock
3: Zukunft der Organisation
- Welches
sind Ihrer Meinung nach die Schlüsselfaktoren, die unserer Organisation
Vitalität und Kraft geben?
- Wenn
Sie unsere Organisation, wie immer Sie wollten, weiterentwickeln oder
radikal verändern könnten, welche drei Dinge würden Sie tun, um unsere
Vitalität, Kraft und unseren Erfolg nachhaltig zu steigern?
- Es
ist das Jahr 2010 und wir sind über unsere kühnsten Träume hinaus
erfolgreich geworden. Wie hat sich unsere Organisation verändert?
Anwendungsmöglichkeiten
für AI
AI
lässt sich dort einsetzen, wo ein Team, eine Organisation oder eine
andere Art von Gemeinschaft sich entwickeln und/oder eine neue Zukunft
für sich und andere gestalten will. Bei jeder Veränderungsthematik,
bei der es hilft, dass die Beteiligten ein größeres Bewusstsein ihrer
bereits vorhandenen Fähigkeiten und Stärken und ein damit besseres Selbstbild
entwickeln, kann AI sehr hilfreich sein. Beispielhafte Anwendungsmöglichkeiten
sind:
- Eine
Abteilung, die in einem Unternehmen die Schnittstelle zum Kunden darstellt,
will herausragenden Kundenservice entwickeln.
- Ein
Krankenhaus will eine beispielhaft gute Zusammenarbeit zwischen Pflegern
und Ärzten erreichen.
- Ein
Team will weiter zusammenwachsen und eine hohe Leistungsfähigkeit
erreichen.
- Eine
Organisation will eine Vision ihrer Zukunft entwerfen und/oder strategische
Ziele entwickeln und viele für die Umsetzung dieser Vision und Ziele
aktivieren.
- Eine
Organisation will an ihrer Führungskultur arbeiten und ein Führungsleitbild
entwerfen.
- Eine
Bank will erreichen, dass im Privatkundengeschäft flächendeckend mehr
als bisher “aktiv verkauft³ wird.
- Eine
Versicherung will die Zusammenarbeit und die Abläufe zwischen Außendienst,
Geschäftsstellen und Hauptverwaltung optimieren.
- Ein
Fertigungsunternehmen will ein eingeschlafenes TQM-Projekt revitalisieren.
- Eine
Hotelkette will erreichen, dass gute Ideen, die sich an einem Ort
bewährt haben, rasch in der ganzen Organisation bekannt werden und
eine Kultur der Innovation und des Lernens entsteht.
- Eine
Organisation will bestmögliche Chancen für die in ihr arbeitenden
Frauen und eine gute Zusammenarbeit zwischen den Geschlechtern realisieren.
- Die
Managementteams zweier fusionierter Unternehmen wollen zusammenwachsen
und einen gemeinsamen Weg für die Zukunft entwickeln.