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APPRECIATIVE INQUIRY: AUS ERFOLGEN LERNEN

 

von Carole Maleh

Die Methode knüpft an Spitzenleistungen an und will Spitzenleistungen hervorbringen, sie ist ein Werkzeug der Organisationsentwicklung und gilt als Motor für Veränderungsprozesse: Die Rede ist von Appreciative Inquiry (AI). Wie der amerikanische Ansatz mit der Intention "Think positive" funktioniert, schildert Organisationsentwicklerin Carole Maleh.

Einer der größten Dienstleister in der europäischen Flugsicherheitsbranche steht nach seiner Umwandlung vom Staatsbetrieb zum Privatunternehmen vor einer großen Her-ausforderung: der Bewährung im internationalen Wettbewerb. Eine interne Reorganisa-tion steht bevor. Dezentral angelegte Flugüberwachungszentren werden zu einer natio-nalen Zentrale zusammengelegt.

Die Aufgabe hat es in sich: Während der "Fusion" muss die 100-prozentige Sicherheit des Flugverkehrs jede Sekunde erhalten bleiben. Die unterschiedlichen Unternehmens-kulturen der bisherigen Standorte sind zu verschmelzen. Und die zukünftige Form des Zusammenarbeitens muss geklärt werden. 20 Entscheider aus verschiedenen Zentralen und Bereichen des Unternehmens sind zu einem zweitägigen Workshop zusammen-gekommen, um den Vereinigungsprozess einzuleiten. Dabei bedienen sie sich einer Antriebsfeder, die in Deutschland noch relativ unbekannt ist: Appreciative Inquiry (AI).

Appreciative Inquiry, frei übersetzt "wertschätzende Erkundung und Entwicklung", ist nicht nur ein Instrument der Organisationsentwicklung, sondern auch Philosophie. Denn die Methode macht angenehme Erfahrungen und Erfolgserlebnisse zur Basis für zukünf-tiges Handeln. Entwickelt wurde AI bereits Mitte der 80er Jahre in den USA: David Cooperrider und Suresh Srivastva, zwei Professoren von der Case Western Reserve University, Texas, konzipierten die Technik, um Organisationen einen positiven Ansatz zur Konzeption und Umsetzung neuer Aufgaben an die Hand zu geben. In den USA haben bereits eine Vielzahl von Unternehmen sowie staatliche und private Einrichtungen mit Appreciative Inquiry Change-Prozesse in Gang gebracht. Jetzt entdecken die ersten deutschen Unternehmen das Instrument AI.

Einsatzfelder für AI gibt es viele: Firmen schließen sich zusammen, eine neue Strategie-planung soll erfolgen oder ein neues Projekt entwickelt werden. Es gilt, die Unterneh-menskultur zu stabilisieren, die Kundenzufriedenheit zu erhöhen oder die Teamarbeit zu stärken. In diesen und ähnlichen Fällen kann AI eingesetzt werden, um Veränderungs-prozesse mit kleinen und großen Gruppen sowie mit dem gesamten System einzuleiten.

Ansatz für Change-Prozesse: Stärken stärken

Das Neue an der Methode besteht vor allem in dem lösungsorientierten, konstruktiven Ansatz: Es geht nicht darum, Situationen und Probleme zu analysieren, sondern darum, Wege für Veränderungen zu erschließen. Während der Fokus des traditionellen Pro-blemlösungsansatzes eher darauf gerichtet ist, weniger von dem zu tun, was nicht gut läuft, heißt das Motto von AI: "mehr von dem, was funktioniert". Der Fokus von AI beruht auf der Annahme, dass jede Organisation bereits Situationen, Abläufe, Prozesse und vieles mehr vorweisen kann, was hervorragend ist. Identifizieren sich die Mitarbeiter mit dem, was bereits heute gut läuft, und analysieren sie, wie sie mehr von den Erfolgen erreichen können, dann ist das Fundament für ein neu entstehendes Gebäude mit dem Namen Veränderung geschaffen.

Den Grundstein für dieses Bauwerk legt ein meist zwei- bis viertägiger AI-Workshop. In dem Workshop soll sich jeder Teilnehmer seiner beruflichen Gipfelerlebnisse und Stärken bewusst werden. Individuelle Erfolge werden dadurch für jeden Einzelnen fühlbar. Was zu diesen Ereignissen geführt hat, wird wertgeschätzt. Vertrauen in die eigene Person und das Unternehmen entsteht. Die unterschiedlichen Erfolgsfaktoren herausragender Momente werden gebündelt, um für die Entwicklung des Unternehmens eingesetzt zu werden.

Aus Erfolgen lernen in vier Phasen

Jeder AI-Prozess beginnt mit einem Interview. Im Vorfeld trifft sich der Workshop-Beglei-ter mit einigen Führungskräften und Mitarbeitern aus dem Unternehmen. Diese Pla-nungsgruppe schreibt zu den Themen, die die Richtung des Wandels vorgeben sollen, positiv formulierte Fragen auf. Diese wiederum werden in einem Interviewleitfaden zu-sammengefasst. So hält Thomas Huber, Moderator im AI-Workshop des Unternehmens für Flugsicherheit, die 20 versammelten Führungskräfte dazu an, eine klare und starke Idee von der Identität des "neuen" Unternehmens zu entwickeln. Sie sollen Rahmenbe-dingungen formulieren, die eine erfolgreiche Zusammenarbeit möglich machen. "Erinnern Sie sich an einen Moment, der ein Höhepunkt war, an dem Sie sich sehr engagiert fühl-ten. Beschreiben Sie, was diese Situation ermöglichte. Und beschreiben Sie eine Zeit, zu der Sie selbst an einer außergewöhnlich guten Teamarbeit teilgenommen haben. Wo-durch wurde diese hervorragende Arbeit möglich?". Auf diese Weise fordert der Organi-sationsberater von der Neustädter Beratungsfirma Loop die Manager zu positiven und konstruktiven Überlegungen auf.

Discovery: entdecken, verstehen, wertschätzen

Paarweise finden sich die Teilnehmer zusammen und interviewen sich zu den Fragen. Dabei beachten sie methodische Hinweise, die ihnen der AI-Begleiter zuvor auf den Weg gegeben hat: "Den anderen wie eine wertvolles Geschenk betrachten. Ihn wie ein Ge-heimnis behandeln, das sich gerade lüftet. Als Interviewer sich in den anderen hineinver-setzen und ihn erkunden." So unterstützen die Interviewer die befragten Personen darin, sich an ihre Spitzenleistungen zu erinnern und diese nachzuempfinden. Und sie bringen sie dazu, jene Aspekte zu entdecken, die diese Glücksmomente möglich gemacht haben.

Die erkundende und interessierte Haltung der Fragenden sowie das intensive Zuhören legt selbst bei anfänglich kritischen Teilnehmern berufliche Höhepunkte frei. Nach der Interviewrunde gruppieren sich jeweils acht Teilnehmer um einen Tisch: In der kleinen Gruppe erzählt jeder Interviewer, welche High-Lights er beim Befragten zu Tage gebracht hat. In der Form des Geschichtenerzählens werden die besten Erlebnisse der Tischrun-den anschließenden im Plenum präsentiert.



Leitfragen des Interviews

Mit diesen Ermunterungen, Fragen und Aufforderungen werden Mitarbeiter in einem AI-Interview konfrontiert:

1. Denken Sie an sämtliche Erfahrungen, die Sie mit Ihrem Unternehmen gemacht haben. Erinnern Sie sich an Momente, in denen Sie sich besonders lebendig gefühlt haben, in denen Sie besonders kreativ oder begeistert waren. Was machte diese Momente spannend? Wer war mit dabei? Beschreiben Sie, wie Sie sich in diesen Phasen fühlten.

2. Lassen Sie uns kurz über das sprechen, was Sie besonders wertschätzen ? Merkmale, die Sie an sich selbst, an Ihrer Arbeit, an Ihrem Unternehmen als wertvoll erachten. Ohne zu bescheiden zu sein: Was schätzen Sie an sich selbst ? als Per-sönlichkeit und als Mitglied Ihres Unternehmens ? besonders? Wenn Sie sich bei der Arbeit besonders gut fühlen: Was an Ihrer Aufgabe mögen Sie dann so sehr? Was schätzen Sie an Ihrem Unternehmen besonders? Was ist das Wichtigste, das Ihr Unternehmen zu Ihrem Leben beigetragen hat? Und zur Welt als Ganzes?

3. Welches sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Faktoren, die Ihr Unternehmen erfolgreich machen und ihm Energie verleihen? Geben Sie ein paar Beispiele dafür.

4. Welche drei Wünsche haben Sie, damit das Unternehmen noch mehr Elan und Energie bekommt?



Überrascht stellen die verschiedenen Unternehmensvertreter fest, dass sich ihre Antworten sehr ähneln. Sie erkennen Gemeinsamkeiten. Gleichzeitig erhalten sie Informa-tionen, die ihren Wissensstand erweitern und die ihnen gegenseitigen Einblick in andere Denkweisen geben. Diese Erkenntnisse haben die Fremdheit und die anfänglichen Bar-rieren der Teilnehmer untereinander ersetzt ? behutsam und auf anerkennende Art. Die Führungskräfte erkennen jetzt eine gemeinsame beruflichen Identität und empfinden diese deutlich. Unterschiede zu akzeptieren und Gemeinsamkeiten zu erforschen sind klar spürbare Verhaltensmuster.

Was die Führungskräfte des Flugsicherheits-Unternehmens in diesem Abschnitt des AI-Workshops erleben, lässt sich der Phase "Discovery" zuordnen: Entdeckung und Verste-hen. Diese Phase, in der die persönlichen Erlebnisse und Emotionen der Teilnehmer die herausragende Rolle spielen und den weiteren Verlauf der Veränderung prägen, erfordert unabdingbar das Vertrauen der Unternehmensführung in ihre Mitarbeiter. Jede Geschich-te, jede Emotion ist erlaubt, erwünscht und wird gewürdigt ? das ist Bedingung von AI. Die "Erlaubnis", persönliche Geschichten zu erzählen, führt dazu, dass tief liegende Er-folgsfaktoren des Unternehmens zum Vorschein kommen.

Die Betrachtung der Erfolge spornt die Führungskräfte der privatisierten Flugsicherheits-firma an, ihre Zukunft zu gestalten. Ein Antrieb, der nicht verwundert. Denn der Blick auf das Positive setzt Menschen in Bewegung. Die bereits erlebten, jetzt wiederentdeckten und noch einmal empfundenen Glücksmomente lösen Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft aus. Es entsteht Lust auf die Zukunft. Die Zukunft ist nah, greifbar und für viele sichtbar. So entwickeln sich Visionen und die Kraft zur Veränderung.

Das Gegenteil bewirkt die Analyse von Misserfolgen. Natürlich lassen sich immer Fehler finden, wenn danach gesucht wird. Und etliche Unternehmen wählen diesen Ansatz ganz bewusst: Aus Fehlern lernen, so heißt es doch. Aber auf Fehler, Mängel und Schwächen zu schauen verbreitet schlechte Stimmung: Demotivation, Hoffnungslosigkeit und Unlust sind die Folge. Gefühle, die wenig dazu beitragen, engagiert und mutig Veränderungen voranzubringen.

Dreaming: Vergangenheit und Zukunft verbinden

Die positiven Entdeckungen im AI-Prozess dagegen bilden einen fruchtbaren Boden für die sich anschließende Phase: das "Dreaming" (Visionieren). Die Teilnehmer setzen sich in Achtergruppen zusammen ? in den bekannten Teams oder in neuen Konstellationen. Gemeinsam knüpfen sie an die Wünsche und Ziele an, die die Erzählungen zum Aus-druck gebracht haben, und machen sich Vorstellungen von der Weiterentwicklung des Unternehmens. Ihre Visionen stehen in deutlicher Verbindung mit den in der Vergangen-heit erreichten Situationen. So entstehen realitätsnahe Konstrukte der Zukunft ? eine Stärke von AI. Der nachfolgenden Präsentation der Zukunftsbilder sind keine Grenzen gesetzt: Die Visionen können den übrigen Teilnehmern z.B. in Form eines Liedes, eines Theaterstücks, oder einer Strukturaufstellung nahe gebracht werden.

Doch wie werden die Wünsche und Ziele der Mitarbeiter für die Organisation kanalisiert und umgesetzt? Und wie werden Motivation und Lust auf die Zukunft gehalten? Indem die Mitarbeiter ihre Visionen auf einzelne Unternehmensaspekte herunterbrechen, indem sie Handlungsstrategien entwerfen und To-Do-Listen aufstellen. All das geschieht in den letzten beiden Abschnitten des AI-Workshops.

Design und Destiny: Konkrete Ziele verwirklichen

In der Phase des "Design" (Gestalten) schneiden die Teilnehmer ihre Zukunftsbilder u.a. auf die Aspekte Unternehmensstruktur, Führung, Kommunikation, Kultur, Personal, Strategie und Qualität zu. Für jeden einzelnen Bereich, der für den Veränderungsprozess wichtig ist, formulieren die Betroffenen Zukunftsaussagen, die auf ihre zuvor herausgear-beiteten Vorstellungen aufbauen. Wichtig dabei: Die Aussagen müssen positiv formuliert, verständlich, nachvollziehbar, erstrebenswert, konkret und erreichbar sein. Für den Kun-denservice wäre zum Beispiel eine Aussage denkbar wie: "Der Einkauf als Dienstleister berücksichtigt die Anforderungen aller Kunden, ganz gleich, wie verschieden sie auch sein mögen. Wir fördern den offenen Dialog mit unseren Kunden und werden sie fragen, wie sie unsere Leistung finden."

In der letzten Phase, der des "Destiny" (Verwirklichen), planen die Teilnehmer, wie die vorab formulierten Aussagen umgesetzt werden können: Wo genau können wir etwas bewirken und mit welchen Maßnahmen? Wer engagiert sich für welches Thema? Wie informieren wir unsere Kollegen? Mit diesen Fragen wird die große Vision jetzt Schritt für Schritt Wirklichkeit.

AI ist ein Ansatz, der sowohl mit kleinen als auch mit großen Gruppen durchführbar ist und sich mit anderen Gruppenmethoden verbinden lässt. Im Besonderen seien hier die Methoden Visionieren, Kollagen, Sketche, Open Space, Zukunftskonferenz und Real Time Strategic Change (RTSC) erwähnt. Je nach Gruppengröße, Situation, Dauer des Prozesses und äußeren Umständen lassen sich innerhalb des AI-Prozesses vielfältige Variationen der Durchführung gestalten.

AI kombiniert mit RTSC

Ein Beispiel für die Kombination von AI mit anderen Formen der Gruppenarbeit gab kürz-lich das Internationale Postverteilungszentrum (IPZ) in Frankfurt: Unter Leitung von Dr. Matthias zur Bonsen, Organisationsberater aus der Firma all•in•one zur Bonsen & Asso-ciates, Oberursel, interviewten sich zunächst 100 Mitarbeiter zu den Themen "Führung", "Zusammenarbeit", "Einarbeitung" und "Qualität". Weitere Interviews folgten in späteren Workshops. Die Mitarbeiter fassten die Gespräche in einem Bericht zusammen. Dieses Kompendium positiver Erfahrungen bildete anschließend die Grundlage für eine Groß-veranstaltung mit 400 IPZ-Teilnehmern: Das Großgruppen-Event verband Elemente des Appreciative Inquiry mit Merkmalen der Interventionsmethode Real Time Strategic Change.

Dem Beispiel des IPZ werden weitere folgen. Wie in Amerika wird sich die Methode Appreciative Inquiry vermutlich auch im deutschsprachigen Raum schnell durchsetzen. Denn das Vertrauen zwischen Mitarbeiter und Management wächst. Das deutsche Management zeigt verstärkt die Bereitschaft, sich auf innovative, kraftvolle und positive Veränderungsprozesse und seine Wirkungen einzulassen. Und Appreciative Inquiry ist für dynamische Change-Prozesse ein guter Katalysator, wie Thomas Huber, AI-Begleiter des Flugsicherheitsbetriebs unterstreicht: "Mit inhaltlichem Tiefgang und unter Berück-sichtigung der verschiedenen Realitäten können Führungskräfte und Mitarbeiter auf eine wertschätzende und einfache Art an ihren Stärken arbeiten sowie Lösungen für die Zu-kunft entwickeln. Und das in einer Qualität, Leichtigkeit und Geschwindigkeit, die staunen lässt."

Aurorin:
Carole Maleh

Diplom-Kauffrau Carole Maleh ist Inhaberin des CAMA Institut für Kommunikationsentwicklung, Hannover. Als Organisationsentwicklerin hat sie sich auf Großgruppenverfah-ren spezialisiert wie Appreciative Inquiry, Open Space, Zukunftskonferenz und Real Time Strategic Change. Sie ist Autorin des Buches "Open Space: Effektiv arbeiten mit großen Gruppen".

Literaturtipps

Sue Annis Hammond: The Thin Book of Appreciative Inquiry, 2. Auflage, Thin Book Publishing Co. 1998, ISBN 0-9665373-1-9, 24,35 DM.
David Cooperrider und Diana Whitney: The Thinbook Appreciative Inquiry, 1. Auf-lage, Stipes Publishing Co. 1999, ISBN 0875639313, 35,- DM.
Charles Elliott: Locating the Energy for Change, International Institute for Sustainable 1999, ISBN 1895536154, 45,- DM.